Dürfen sich Frauen im Schwimmbad Oben ohne zeigen? Auf diese aktuelle Debatte weist meine Freundin mich hin. Ich kann ihr leider keinen Diskussionspartner bieten, weil ich hier überhaupt keine Position vertrete. Ja, ich kann verstehen, daß es manchmal lästig sein mag, ein Oberteil zu tragen. Ja, ich kann verstehen, daß es manchmal lästig ist, wenn jemand einen anguckt. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Eine Formulierung hab freilich auch ich aufgeschnappt: In einem Provinzblättchen wurde eine Studentin zitiert, die wünschte, Brüste möchten endlich „entsexualisiert“ werden.

Das ist drei Tage her, und heute fällt mir ein, daß ich über Udo Lindenbergs Liedtext „Cello“ sprechen sollte.

Überschätzte Gedichte Teil 7

Getrampt oder mitm Moped oder schwarz mit der Bahn
Immer bin ich dir irgendwie hinterher gefahrn
Nein, damals hab ich kein Konzert von dir versäumt
Und nachts konnte ich nicht schlafen, und wenn, dann hab ich von dir geträumt

Du spieltest Cello in jedem Saal in unserer Gegend
Ich saß immer in der ersten Reihe und fand dich so erregend
Cello – du warst eine Göttin für mich
Und manchmal sahst du mich an
und ich dachte: Mann oh Mann
und dann war ich wieder völlig fertig.

Ja, ich war ständig da, und das hat dich dann überzeugt
Wir wollten immer zusammen bleiben
Und überhaupt, das mit dir, das war so groß
Das kann man gar nicht beschreiben
Und heute wohnst du in Erfurt
und dein Cello steht im Keller
Komm pack das Ding doch nochmal aus
und spiel so schön wie früher

Ein bekannter Gestus, so scheint es: Ein Erwachsener erinnert sich an eine Jugendliebe. So pflegen auch Bekannte von mir, die dieses Lied als Klassiker ansehen, es einzuschätzen. Ich kann dieser Sichtweise nicht folgen. Schon deshalb, weil ich bei diesem Text nichts erkennen kann, dem ich folgen könnte.

Seit ich dieses Lied kenne, seit sagen-wir 35 Jahren, frage ich mich: Worum geht’s bitte?

Fangen wir hinten an: Das Cello steht im Kello. Und da steht’s nicht deswegen, weil dieser Keller als Musikunterrichtsstudio ausgebaut wäre, oder als schalldichte Übekabine, wo acht Stunden Etüden gepaukt würden. Sondern, weil das Cello nicht mehr gespielt wird. So wie das Cello meines Schulkameraden Dieter, der zur Abiturszeit behauptete, die Brahms-e-Moll-Sonate könnte er schon mal mit mir machen (den Beweis ist er schuldig geblieben), dann Physik studierte, abbrach, Tierwirt wurde und seit Jahrzehnten seinen eigenen Ökobetrieb am Leben hält. Der sagte neulich auf Nachfrage: bevor er sein Cello mal wieder in die Hand nähme, müßte erstmal ein Kenner draufschauen: ob noch alles dran sei. In dieser Hinsicht stellt Dieter unter meinen Schulkameradinnen keine Ausnahme dar, sondern die Regel: So ein Verhältnis zum Musikschul-Instrument ihrer Jugend unterhalten die meisten von ihnen. Aaaaaber: Wer von denen hätte früher in jedem Saal in unserer Gegend gespielt? Realistisch dürfte jede/r von ihnen in zehn Teeniejahren rund drei-vier öffentliche Auftritte absolviert haben, mit jedesmal Riesenbammel davor. Durchweg Auftritte dieser Art: Klassenvorspiel der Instrumentalklasse Frau Holfelder in Raum 15 der Musikschule oder bei einer Familie zuhause. Und das war’s mit ihrer musikalischen Podiumspräsenz!

Okay, es gab jugendliche Stars. Die waren gefragt – das heißt, sie mußten nach dem Unterricht noch beim Kammermusikprojekt des Nachbarlehrers in Raum 14 mitmachen. Regelrechte Opfer gab’s, die nicht Nein sagen konnten und deshalb ständig als Begleiter herangezogen wurden, zu denen hab ich am Klavier gezählt. Möglich, daß Udos Cellistin oft zum Generalbaßspielen bei Blockflötensonaten eingespannt wurde. Udo schlachtenbummelte dann von Pepusch zu Telemann und von Praetorius zu Boismortier, mit dem Mofa über die Musikschulkorridore, und saß immer in der ersten Reihe, weil es eine weitere Reihe gar nicht gab?

Nun im Ernst: Was ist das für eine Gegend, was sind das für Säle, und vor allem, was für eine PR-Arbeit soll ich mir da vorstellen? Bei uns hat sich die Werbung für so ein Konzert auf ein einzelnes DIN-A-4-Blatt beschränkt. In Lindenbergs Gegend aber muß landauf-landab plakatiert gewesen sein: Freitag Mehrzweckhalle Quakenbrück, Blockflötenvorspiel von Frau Holfelders Klasse, arme Sau am Generalbaßcello: die 15-jährige Antje. Und wegen des großen Erfolgs nächsten Mittwoch nochmal in der Merces-Benz-Arena Delmenhorst, wieder mit Antje!

Oder war Antje schon erwachsen, und mit einer ländlichen Folktanzband unterwegs? Beim Tanz kann Udo aber nicht in der ersten Reihe gesessen haben. War sie als Begleiterin des lokalen, höchst konzert-organisationstüchtigen Liedermachers unterwegs? Dann wär dieser doch bitte eine Erwähnung wert gewesen. Als einzige irgendwie denkbare Lösung erscheint mir: Antje war gebeten worden, im Frühjahr 1960/61 ausnahmsweise mal nicht nur im Orchester des Goethe-Gymnasiums mitzuwirken, sondern auch im benachbarten Schiller-Gymnasiums-Orchester sowie im Orchester der Rudolf-Steiner-Schule. Udo ist dann aufm Moped zu Goethe, per Anhalter zu Schiller und mit der Bahn zu Steiner gereist. Und in der Erinnerung wird aus diesen drei Touren ein „immer irgendwie hinterhergefahrn“, ein „ich war ständig da“?

Irgendwie denkbar und gleichwohl wenig plausibel. Rätselhafter noch ist nun dies: Die Dame muß eine hoch-arrivierte Jungmusikerin gewesen sein. So eine läßt ihr Cello nicht einfach einstauben. Die Stars meiner Jugend-musiziert-Zeit, nahezu alle haben sie Musik studiert – wenn nicht, dann gab’s einen wichtigen Knackpunkt à la: Plötzlich war da Andreas, der Apotheker, und zack! waren sieben Kinder da, sodaß fürs Cello kein Platz mehr war. Aber das gehört dann doch auch zur Geschichte! Ach so, Stefano, ihr hochverehrter Lehrer, hat sich mit dem Cellostachel ein Auge ausgestochen, deshalb rührt sie ihr Instrument nicht mehr an? Dann ist das doch wichtig zu wissen! Ach so, Udo, du selbst warst der Knackpunkt? Zu euren gemeinsamen Vollmondspaziergängen hat sie zunächst immer das Cello mitgenommen und auf der Waldwiese gespielt, bis sie durch die Höhe der Lindenbergschen Schlagzeug- und Gesangskunst merkte, daß sie für Musik viel zu schlecht sei? Und erkennen mußte: Wenn das mit uns so groß ist, daß nicht einmal Udo es beschreiben kann, dann ist mein Cellospiel schon gar nicht fähig, ihm gerecht zu werden? War es so, und dein „und spiel so schön wie früher“ meint: Ooooch komm, so schlecht wars doch gar nicht?

Wie gesagt, ich kann es nicht erkennen. Erkennen kann ich nur dies: Wenn du, Udo, etwas nicht beschreiben kannst, folgt daraus nicht zwingend, daß „man“, also die gesamte Menschheit, es „überhaupt nicht beschreiben“ könne. Hören wir rein, wie eine Liebe, die ein ganz klein bißchen kleiner war, eben so, daß du, Udo, sie gerade noch beschreiben kannst, klingt:

Das mit uns ging so tief rein,
das kann nie zu Ende sein. (…)
Das mit uns war so total,
sowas gibt es nicht nochmal.

Egal, wie tief und total es gewesen sein mag – was die die Güte der Beschreibung angeht, ist da noch Luft nach oben, meine ich. Zurück zum Cello-Text. Die Frage, warum eine Cello-Göttin kein Cello mehr anrührt, ist zu wichtig, als daß sie einfach ausgeklammert bleiben könnte. Daß eine Jugendliebe irgendwann vorbei ist, ist das eine. Aber die Beziehung zum klassischen Musikinstrument unserer Jugend, wenn diese Beziehung übers Ich-hab-einen-Volkshochschulkurs-mit-Peter-Burschs-Gitarrenbuch-Band-1-Absolviert hinausging, etwas anderes. Als langjähriger Musikschüler weiß ich, wovon ich rede. Udo offenbar nicht.

Tatsächlich vermute ich als Ursprung dieses Liedes keine tatsächliche Beziehung zu einer Cellistin. Sondern den Gedanken: Das wär doch mal was, wenn wir in unser Panikorchester-Programm ein Lied mit nem Cellosolo reinbrächten. Mit ner tollen Frau am Cello. Und textlich bauen wir da einfach sowas mit Jugendliebe und einer Jetzt-isses-vorbei-Zweiten-Strofe dazu.

Das ganze scheint glattem Showbizz-Kalkül entsprungen zu sein. Ebenso wie Lindenbergs Sprache, die bevorzugt einen In-höchsten-Superlativ-Tönen-aber geschnoddert-Jargon anschlägt: „und ich war wieder völlig fertig“. Zack, schon ist eine Strofe völlig fertig.

Es gibt hübsche Formulierungen bei Udo:

Wir waren völlig fertig (wieder mal)
und konnten es einfach nicht glauben
und man sagt: große Ereignisse
werfen ihre Schatten unter die Augen

Wobei ich auch da sehr rationelle Arbeit, womöglich eines Teams, vermute. Eine andere originelle Formulierung in einem Lindenberg-Song „Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm nur viel zu selten dazu“, stammt von Ödön von Horvath, ohne daß Lindenberg das extra ausweisen würde.

Mir fällt ein Kurztext Gerhart Polts ein: „D Anni sagt auch, daß sie den Dr. Müller für einen wirklich ausgezeichneten Geschäftsmann hält. Als Arzt, sagt sie, is er eher mittelmäßig.“ Udo Lindenberg halte ich für einen ausgezeichneten Geschäftsmann. Als Arbeiter an Texten ist er – ich sag mal so: nicht am Lebensmittelpunkt seiner Tätigkeiten.

Um nochmal zum Anfang zurückzukehren. Unter den Reimpaaren des Liedes fällt das von „Gegend“ auf „erregend“ auf, die übrigen Reime oder Reimversuche: Bahn-gefahrn, versäumt-geträumt, an-Mannomann, für mich-fertig, bleiben-beschreiben – sie gehen daneben unter. Nun ist im Musikgeschichts-Unterricht zu erfahren, daß das Cello tatsächlich lange Zeit als für Frauen unschickliches Instrument galt, wegen seiner Da-zwischen-den-Beinen-Position, und erst im 20.Jahrhundert entsexualisiert wurde. Was tut nun Lindenbergs auffälliger Reim? Er transportiert eben den vorgestrigen Schlüpfrigkeits-Assoziationsmüll wieder daher.

In schlaflosen Nächsten treibt mich manchmal ein Wach-Alptraum um: Im Deutschunterricht, ich weiß nicht, ist’s in Frankreich, Aserbaidschan oder Südkorea, jedenfalls wird da ein Lehrbuch verwendet, in dem als Musterbeispiel eines deutschen Chansons abgedruckt steht: jener Lindenberg-Text. „Bei meinem Deutschlandaufenthalt habe ich festgestellt, das alle Deutschen dieses Lied lieben“, sagt die Lehrerin. Ich aber sage: So, wie es Amis gibt, die Donald Trump nicht verehrt haben – so steht hier ein Deutscher, der Udo Lindenbergs „Cello“ nicht liebt. Es vielmehr richtig scheiße findet.

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