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Ich lese von einer Firma, die Karosserien berühmter Oldtimer nachbaut und drunter das Fahrgestell eines modernen Elektoautos setzt, eines langsamen. Da ragt das Äußere eines Vorkriegs-Kompressor-Rennwagens, eines feuer- und lärmspeienden, fässerweise Benzin verschlingenden Monsters, und drunter steckt ein mildes Maschinchen. Zum harmlosen Cruisen taugt das Gefährt – Kraft Aufwenden muß der Protagonist auf dem Fahresitz nicht. Von diesen Auto-Transvestiten lese ich und fühle mich erinnert an Faust I.

 

Bei diesem Stück sieht’s von fern tragisch und dramatisch aus, und was steckt drunter? Spannungen im Miniformat. Den Handlungsbogen betreffend und vom Ende her betrachtet – Faust beschimpft Mephisto als „Abscheuliches Untier! (…) Mir ekelts!“ -, zeigt sich die traditionelle Geschichte von einem, der sich mit einer Teufelsfigur einläßt und dann bereut. Ein Gelände von Aufstieg und Fall, wie wir’s kennen aus anderen Bearbeitungen des Faust-Stoffs (das sogenannte Volksbuch „Historia vom Doktor Faustus“, als wohl früheste Sammlung von Faust-Geschichten, war Goethe bekannt) sowie aus Märchen wie dem vom Kalten Herzen (Hauff) oder von Peter Schlemihl (Chamisso). Sie basieren auf moralischer Schwarzweiß-Malerei: Hier das moralisch Gute, eng Begrenzte, dort das powervolle Böse. Zwei Pole, zwischen denen als Entladungs-Lichtbogen die Handlung entsteht – welche in den Faust-Geschichten mit Feuer, Qualm und Luftreisen aufwarten kann und grausig endet. Bei Goethes „erstem Theil“ freilich kaum für Faust. Vielmehr für sein Umfeld.

 

Das Stück stellt ein Dramen-Fake dar, eine Attrappe. Unterm Handlungsbogen finden sich keine gewaltigen Kräfteverhältnisse, Spannungen, Zwänge, sondern eine praktisch gefälle- und konfliktfreie Basis. Margaretes Mutter, ihr Bruder, ihr Kind müssen sterben, Margarete muß wahnsinnig werden, wieso? Als Kollateralschaden launigen Herrendialogs. Zwanglos plätschert die Katastrophe daher. Das ist das Hauptproblem von Faust I: daß es kein Hauptproblem gibt. (vgl. unten Klingemann I)

 

Freilich wird eingangs gejammert. Die Titelfigur ist in Meckerlaune, eine ganze Reihe von Ärgernissen und Wünschen Fausts müssen wir anhören. Wird irgendetwas davon im weiteren Stückverlauf ein Rolle spielen? Nein. Ich liste auf: Faust beklagt Sinnkrisen 1.) als Wissenschaftler („sehe, daß wir nichts wissen können!“), 2.) als Pädagoge („Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren“), 3.) als Weltverbesserer und Bekehrungs-Prediger („Die Menschen zu bessern und zu bekehren“), sowie egoistische Motive: 4.) „Auch hab‘ ich weder Gut noch Geld“, 5.) „Noch Ehr‘ und Herrlichkeit der Welt“. Mephisto gegenüber zählt Faust weiteren Frust auf: Er möchte 6.) fliegen können – „ja, wäre nur ein Zaubermantel mein!/ Und trüg er mich in fremde Länder“, und 7.) hegt er kreative Ideen, die nicht zu realisieren sind – wobei wir weder erfahren, worum es sich bei jener „Schöpfung meiner regen Brust“ handle, noch, was deren Realisierung „mit tausend Lebensfratzen hindert“. Ja, in seiner Jugend, so hören wir beim Osterspaziergang, hegte Faust 8.) einen altruistischen, frommen Wunsch: „mit Beten und mit Fasten“ wollte er „das Ende jener Pest / Vom Herrn des Himmels (…) erzwingen“.

 

Dieser Wunsch 8.) scheint sich erledigt zu haben. Wünsche 4.) und 5.) entpuppen sich als Undankbarkeit, da Faust keine Not leidet, vielmehr zum Doktorschmaus geladen hat, und vom Assistenten Wagner, von den Bauern und vom Schüler hoch verehrt wird. Die Punkte 1.) – 3.) wiederum wischt Faust selbst weg, als Mephisto sein Angebot vorlegt: „Des Denkens Faden ist zerrissen, / Mir ekelt lange vor allem Wissen.“

 

Auch Mephisto kümmern Fausts Wünsche nicht, keinen Punkt der Mängelliste wird er explizit aufgreifen. Punkt 6.) wird teil-erfüllt: Einen Zaubermantel zum Fliegen besitzt Mephisto, nach Leipzig und zum Blocksberg trägt er die Reisenden. Fremde Länder aber werden nicht angesteuert. Und umgekehrt: Eine junge Frau zu verführen sowie Auerbachs Keller und die Walpurgisnacht zu besuchen, nichts davon enthielt Fausts Wunschliste. Am Ende der Exposition muß gefragt werden: Wo ist das Problem? Faust ist zwischen so vielen Klagen hin-hergehüpft, daß wir keine einzelne ernst nehmen können. Faust selbst auch keine.

 

Im Zuge lockeren Plausches verbindet er sich mit Mephisto, und zwar unverbindlich. Sowohl Faust wie Mephisto behaupten, das Verhältnis verlassen zu können: „So sind wir um Mitternacht geschieden“, droht der liebstrank-befeuerte Faust – „Ich lasse dich mit ihr im Stich!“, menetekelt Mephisto vorm Kerker. Fixiert zu sein scheint nichts. Jene Blut-Unterschrift unter einen Vertrag auf Gegenseitigkeit („wenn wir uns drüben wiedersehen, / so sollst du mir dasselbe tun“), die Mephisto im Studierzimmer wünschte, leistet Faust, soweit wir Zeugen sind, nicht. Zwang besteht keiner.

 

Eins vereinbaren Mephisto und Faust: eine Wette: „Topp! – Die Wette gilt!“ Da Mephisto vorher schon mit Gott wettet, muß konstatiert werden: Wir sehen eine Tragödie, wo an zentralen Schaltstellen gezockt wird. Freilich wurde zwischen Faust und Mephisto kein Einsatz festgelegt, ja, auch nicht wirklich, was Thema der Wette sei. Klar ist, daß Faust das, was er im direkten Kontext gelobte („Sollt ich zum Augenblicke sagen:/ Verweile doch! Du bist so schön!/ Dann magst du mich in Fesseln schlagen“), keineswegs einhält. Schon, als er allein in Gretchens Kammer schnüffelt („hier möcht ich volle Stunden weilen“), und abermals in „Wald und Höhle“, nimmt er sehr wohl die Augenblick-Genießer-Position ein. „Schluß! Du hast die Wette verloren!“, müßte ein konsequenter Mephisto sagen. Tut er nicht.

 

Vergleichen wir mit der „Historia“: Dort vermisst Faust eine Sexpartnerin, „vnnd stach jhn seine Aphrodisia Tag vnd Nacht“, deshalb fragt er Mephisto, ob er heiraten dürfte. Nein, lautet die Antwort, im Vertrag sei dies ausdrücklich verboten, und bei Zuwiderhandlung „soltu gewißlich von vns zu kleinen Stücken zerrissen werden.“ Faust kümmert sich nicht drum und will trotzdem heiraten. Nun erscheint – sowas ist Chefsache – der Haupt- und Oberteufel persönlich, jagt Faust gehörigen Schrecken ein und erinnert nachdrücklich an die Abmachung.

 

Bei Goethe fehlen diese Festlegungen, umso mehr tun sich Fragen auf: Wieso sagt Faust, als er in „Wald und Höhle“ glücklich ist, zu Mephisto nicht Tschüß? Sondern redet davon, ihn „schon nicht mehr entbehren“ zu können? Hier braucht er ihn nicht! Später, als die beiden Valentin getötet haben, kommt das Zaubermantel-Fluchtfahrzeug freilich gelegen. Da sind schon fünf Sechstel der Stückdauer verstrichen! Wieso heiratet Faust die schwangere Margarete nicht, zahlt Unterhalt und zieht nach Lust und Laune weiter mit Mephisto durch die Welt? Wie es, angeblich ohne Unterhaltsleistungen, Marthe Schwerdtleins Gemahl tut, und wie es Ehemann Goethe mit Herzog Karl August tat?

 

Hier kommen wir zum, neben dem fehlenden Problem, zweiten Groß-Defizit: Faust handelt nicht. Vielmehr darf er einen guinnes-buch-fähigen Superlativ für sich verbuchen: Es dürfte keine andere Dramenfigur geben, die so viel redet, ohne dass irgendwas davon für die Handlung Belang gewänne.

 

Anders als der Faust der „Historia“ oder jener Marlowes unternimmt der Goethesche nichts, den Teufel herzuzitieren. Faust beschwört den Weltgeist herauf, der ihm eine Abfuhr erteilt, keine andere Macht wird angerufen. Alles, was nach Weltgeist-Schlappe und Osterspaziergang passiert, geht von Mephisto aus: Dieser ist’s, der Faust umgarnt. Mephisto ist’s, der gern eine Unterschrift hätte. Mephisto ist’s, der Faust zur Verjüngung in der Hexenküche überredet und ihn durch ein Aphrodisiakum so scharf macht, daß Faust sich unweigerlich verlieben muß. Mephisto ist’s, der, als das Aphrodisiakum abgeklungen und Faust in Waldeinsamkeit glücklich ist, diesen neu antreibt: Los! Jetzt mußt du Gretchen beschlafen! – gegen Fausts Widerstand: „Bring die Begier zu ihrem süßen Leib / Nicht wieder vor die halb verrückten Sinnen!“ Er ist’s, der die Liebesnacht praktisch ermöglicht – „dies Fläschchen hier“, „hab ich doch meine Freude dran!“ Er ist’s, der Valentin im Fechten besiegt. Er nimmt Faust in Auerbachs Keller und zum Blocksberg mit – diese Stationen standen auf Mephistos, nicht auf Fausts Programm.

 

Kurz, Mephisto ist Anbieter eines Abenteuerurlaubs, eines Ferienpass-Scheckhefts, dessen Angebote Faust Punkt für Punkt mitnimmt. Mephistos Versprechen: „Ich will mich hier zu deinem Dienst verbinden,/ Auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhn“, bleibt ohne Belang. Aufträge, die Faust erteilt, als er Gretchen rumkriegen will („Schaff du ihr gleich ein neu Geschmeid!“), geschehen völlig dem Mephisto-Programm gemäß, unterm Einfluß des Aphrodisiakums („Ah bravo! Find ich Euch in Feuer?“). Übernimmt Faust irgendwann die Initiative? Ja, als das Kind in den Brunnen gefallen, die Messe gelesen, der Drops gelutscht ist: vor und in Gretchens Kerker, da spornt er Mephisto an, endlich was zu tun – – nein, auch das nicht: Mephistos Angebot, Gretchen zu befreien und mit Faust zusammen zu fliehen, läßt Faust verstreichen. Ja, hätte Faust Befehle ausgegeben, vermutlich hätte Mephisto gespurt. Sie bleiben aus.

 

Das heißt, der Wende- und Knackpunkt solcher Geschichten: dass nämlich das Menschlein mit dem übernatürlichen Macht-Zuwachs nicht umgehen, die entfesselt losstürmende Kiste nicht mehr steuern kann, diese Zauberlehrlings-Moral fehlt hier. Weil Faust Lenkrad und Gaspedal gar nicht anfasst. Vielmehr läßt er das vom Anbieter arrangierte Autopilot-Programm weiterlaufen. Wenn Mephisto in Gretchens Kerker fragt: „Wer hat sie ins Verderben gestürzt? Du oder ich?“, könnte Faust zurückfragen: „Was hab denn ich von mir aus getan? Außer daß ich, vor deinem Erscheinen, erfolglos den Weltgeist herzitierte? Nicht mal mich umzubringen hab ich geschafft. Zum Osterspaziergang mußte Wagner mich auffordern. So unentschlossen und wackelig bin ich!“

 

Generell erweist sich Faust als Gegenteil von dem, was er dem Klischee nach sein soll: einem reifen, lebensklugen Wissenschaftler. Faust ist labil-emotional – am deutlichsten zeigt’s sein Stimmungsumschwung am Ostermorgen. Er widerspricht sich: „Mir fehlt der Glaube“ sagt er direkt vorm Spaziergang, um dann auf demselben zu mahnen: „Vor jenem droben steht gebückt, / der helfen kann und Rettung schickt.“ – „Zwar bin ich gescheiter als alle die Laffen“, tönt Faust eingangs, „vor andern fühl ich mich so klein, / ich werde stets verlegen sein“, druckst er Mephisto gegenüber. Er ist arroganter Kotzbrocken: „Ich kann mich nicht bequemen, / den Spaten in die Hand zu nehmen“, auf Wagner blickt er als „ärmlichsten von allen Erdensöhnen“ herab (siehe unten Klingemann III). Er verabschiedet sich, als Mephisto aufgetaucht ist, flugs von der Wissenschaft. Obendrein ist Faust so dumm, daß er von mir Tennisplatzis genannt wird.

 

Deswegen: Tennisplatzis heißt ein Ägypter in der deutschen Ausgabe von „Asterix als Legionär“. Er läßt sich mit Asterix, Obelix und einem Briten zusammen als Söldner der römischen Armee engagieren. Aufgrund mangelnden Sprachverständnisses sieht er das entbehrungsreiche Militärleben durchweg als Erlebnisurlaub an und zeigt sich hochzufrieden. Ein Mißverständnis, das auch am Schluß nicht aufgeklärt wird.

 

Analog Faust: Das neue Leben, welches Mephisto ihm verschaffte, glaubt er durchweg dem verehrten Weltgeist zu verdanken, obwohl ihm dieser eine Abfuhr erteilte. „Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles“, darunter auch „den Gefährten, der kalt und frech / Mich vor mir selbst erniedrigt“, dankt er in „Wald und Höhle“; „Wandle ihn, du unendlicher Geist! wandle den Wurm wieder in seine Hundsgestalt“, bittet er am Schluß („Trüber Tag. Feld“). Daß er williges Opfer Mephistos ist, schnallt Faust noch am Ende nicht – er glaubt, jener Weltgeist sei ober-verantwortlich. Ihm gegenüber pflegt Faust eine einfältige Frömmigkeit, vergleichbar einem christlichen Bankräuber, der Millionen erbeutet, ins Gourmetrestaurant geht, zwölf Gänge ordert und dann im Tischgebet Gott für seine große Güte dankt.

 

Bescheuert ist auch jener Wunsch, den Faust im Kontext der Studierzimmer-Wette äußert: „Sollt ich zum Augenblicke sagen“ usw. Was soll das? Es gibt Kneipentouren unter dem Motto „Aber in jedem Lokal nur einen Kurzen und sofort weiter!“ – daran erinnert dieser Vorsatz. Er hat etwas Prolliges, Sensationslüsternes, unbesonnen sich Verrennendes. Das sieht auch Mephisto so, da er anschließend feixt: „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, / Des Menschen allerhöchste Kraft, /(…) So hab ich dich schon unbedingt – (…) Und hätt er sich auch nicht dem Teufel übergeben, / Er müßte doch zugrunde gehn!“ (vgl. unten Klingemann II).

 

Während die Faust-Figur der „Historia“ durchaus unsympathisch, ja, als Monster erscheinen soll, über dessen Untergang wir uns freuen, während auch die Faust-Figuren Marlowes, Grabbes und Lenaus nicht auf Identifikation, vielmehr als warnende So-nicht-Exempel angelegt sind, läßt Goethe uns viel am inneren Befinden der Titelfigur teilhaben. Ein werther-ähnliches Sensibelchen wankelt vor uns, anscheinend sollen wir Mitgefühl entwicklen. Mir gelingt das nicht, im Gegenteil: Diese Figur stößt mich ab.

 

2

Nicht nur, daß kein Zwang besteht zwischen Faust und Mephisto – auch die Hierachien gestalten sich flach. Beide vertragen sich gut: Schon den Pudel fand Faust anziehend, und kaum dass Mephisto ausgeschlüpft ist, plaudert man auf Augenhöhe. Eine Ziemlich-beste-Freunde-Beziehung entsteht – keine Don-Quichotte-und-Sancho-Pansa oder Don-Juan-und-Leporello-Beziehung, sondern eine zwischen zwei Ähnlichen, Gleichgewichtigen (vgl. unten Klingemann V). Wie nah beider Redeweise beieinander liegt, läßt sich daran erkennen, daß Goethe in der Szene „Auerbachs Keller“ die beiden gegeneinander austauschen kann: Im „Auerbach“ des Urfaust ist es Faust, der zaubert und den Studenten verbal Paroli bietet, im Faust-1-Auerbach übernimmt Mephisto die fast identischen Zaubertricks und Wortbeiträge.

 

Wie der Mephisto der „Historia“ verkörpert Faust-1-Mephisto einen kleinen Angestellten am Höllenimperium, einen „Teil von jener Macht“. Der „Historia“-Mephisto zeichnet sogar ein regelrechtes Höllen-Organigramm und erläutert Kompetenz- und Machtverhältnisse. Goethes Mephisto seinerseits betont mehrfach die Beschränktheit seiner Möglichkeiten: „Ich brauche wenigstens vierzehn Tag / Nur die Gelegenheit auszuspüren“, „O ja, dem Herrn ist alles Kinderspiel“, „Habe ich alle Gewalt im Himmel und auf Erden?“, „Ich kann die Bande des Rächers nicht lösen, seine Riegel nicht öffnen.“ Der schnöselige Faust fühlt sich zunächst gar Mephisto überlegen, um dann einzulenken: „Ich habe mich zu hoch gebläht, in deinen Rang gehör ich nur“. Auch wenn Mephisto wunderbare Möglichkeiten eröffnet, höher als sich selbst schätzt Faust ihn keineswegs ein. Umgekehrt trifft Mephistos Ankündigung, sich in eine Dienerrolle zu begeben – „Ich will mich hier zu deinem Dienst verbinden,/ Auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhn“ -, nicht wirklich ein. Die beiden sind Kumpels.

 

Unlogischerweise darf der Kleinteufel vorher, im Prolog im Himmel, direkt und auf Augenhöhe mit Gott sprechen. Den Plot dieser Szene hat Goethe aus dem Buch Hiob übernommen: Hier wie dort unterhalten sich Gott und eine Teufelsfigur, die hier wie dort als „Gottessohn“ bezeichnet wird, über eine Wette betreffend die Verführbarkeit eines Mannes, den Gott seinen „Knecht“ nennt. Grundverschieden allerdings das Personal: Dort handelt sich’s um Oberteufel Satan, der den gottesfürchtigen, erfolgreichen Hiob auf die Probe stellen darf. Hier darf Mephistolein den vom Gottesglauben abgefallenen, notorisch wankelmütigen Faust probe-traktieren, von dem sogar Goethes höchst naiver und euphemistischer Gott feststellen muß, daß er „mir jetzt (…) nur verworren dient“. Auf Fausts Standhaftigkeit würde kein nur halbwegs Aufmerksamer fünf Pfennig verwetten! Auch Goethes Gott setzt nicht auf ihn, sondern überläßt ihn freigebig Mephisto – freilich, ohne Faust deswegen zu verstoßen. Diesem Gott ist eh alles recht: „Es irrt der Mensch, solang‘ er strebt“, und wenn nun Mephisto Faust verführe, gehe das in Ordnung: „Ich habe deinesgleichen nie gehaßt“, im Gegenteil: „Gern“ gebe er, Gott, dem zur Trägheit neigenden Menschen den belebenden „Gesellen zu,/ Der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen“ – dieser Darstellung Gottes zufolge ist der Teufel nichts anderes als ein Adrenalin-Kick. Gott in solch beschwipster Alles-umarme-Stimmung darzustellen, fand Goethe scheint’s amüsant. Jedenfalls, wie zwischen Faust und Mephisto finden sich auch zwischen Gott und Mephisto Friede-Freude-Eierkuchen-Klima und flache Hierarchien.

 

Wieso baut Goethe diese Posse vorn dran? Der Urfaust ist ohne sie ausgekommen. Ich vermute: Goethe dürfte bemerkt haben, daß über neun Zehntel der Dramendauer nur Mephisto handelt, während Faust passiv bleibt. Nun will Goethe das damit begründen, daß Mephisto sich im Prolog ausbittet, Faust „meine Straße sacht zu führen“. Dieser Prolog eröffnet eine Rahmenhandlung, die dann nicht vervollständigt wird. Neue Fragen tauchen auf: Wieso läuft Mephisto, als Faust „das süße, junge Blut“ schon „heut nacht“ begehrt, nicht stracks zu Gott und sagt: „Da, guck Faust an, dahin hab ich ihn gebracht! Ich hab die Wette gewonnen, jetzt ist er mein Opfer!“? Und wieso muß Faust, nachdem er Mephisto – beide Faustteile zusammen – acht Dramenstunden lang auf den Leim geht, nicht Staub fressen, wie Mephisto es als Wettpreis bei Gott vereinbart hatte?

 

 

3

Auch unabängig von der fehlenden Faust-Mephisto-Spannung stelle ich dem dem Stück ein schlechtes Zeugnis aus, in vier wichtigen Fächern:

 

1. Konzeption/Ökonomie

Während die reimlosen Szenen hinten stark und dicht gestaltet sind, wird eingangs massenhaft Text verpulvert, nur um die Instabilität Fausts vorzuführen. Gut die Hälfte der Dauer ist verstrichen, bevor Gretchen erstmals auftaucht. Kasperl-Stückchen wie „Auerbach“ oder Schülerszene beanspruchen viel Aufmerksamkeit, dazu kommt als Weisheit geschminkter Humbug wie Mephistos Statement, daß seine Firma „stets das Gute“ wolle (was Mephistos Intentionen, seine Freude an der Kuppelei etwa, klar widerlegen) oder Fausts „Logos“-Übersetzungs-Versuche. Da ich selbst als Schulbub ein Graecum ablegen mußte, weiß ich, dass der Begriff „Logos“ mancherlei bedeuten kann – „die Tat“ aber bedeutet er beim besten Willen nicht. Diese Passage ist, wie viele Zeilen hier, Schnickschnack, Quark, Wildwuchs.

 

2. Bühnentauglichkeit

Goethe, Mann des Theaters, erweist seiner Domäne Bärendienste. Was in Szenenanweisungen gehört hätte, steckt er in den gesprochenen Text: „In rotem, goldverbrämtem Kleide,/ Das Mäntelchen von starrer Seide, / Die Hahnenfeder auf dem Hut“, beschreibt Mephisto sein Reisegewand. Was tun? Stattet man Mephisto so aus und läßt ihn die Dinge beim Sprechen vorzeigen, wirkt das arg didaktisch. Stattet man ihn anders aus, wirkt‘s irritierend. Doof auch die Faust-I-Variante (im Unterschied zur Urfaust-Fassung) von „Auerbachs Keller“ : Faust spricht ein Sätzchen zu Anfang der Szene, eins am Ende: „Seid uns gegrüßt, ihr Herrn!“ – „Ich hätte Lust, nun abzufahren.“ Dazwischen vier Textseiten lang nichts. Was mach ich als Regisseur mit ihm? Laß ich ihn dasitzen und auf dem Smartphone daddeln? (vgl. Klingemann IV)

 

3. Poetische Umsetzung

Goethe kann hervorragend dichten und zeigt’s stellenweise auch hier, etwa, wenn Faust seinen Wunsch zu fliegen ausmalt („vor mir der Tag und hinter mir die Nacht“), oder eingangs der „Wald- und-Höhle“-Szene. Einige Bilder aber mißglücken total. Zwei Beispiele. Erstens, aus dem „Prolog im Himmel“- Gott spricht: „Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient, / So werd ich ihn bald in die Klarheit führen. / Weiß doch der Gärtner, wenn das Bäumchen grünt, / Daß Blüt und Frucht die künft’gen Jahre zieren.“ Was haben die ersten beiden Zeilen mit den zwei folgenden zu tun? Ehrlich gesagt weiß ich nicht mal, wer hier Gärtner, wer Bäumchen sein soll. Soll dem Gärtner Faust die Erkenntnis grünen, und er wird bald Früchte seiner Forschungen, „Klarheit“, ernten? Oder ist Faust Bäumchen, das, eben dadurch, dass es gerade am Verzweifeln ist, grünt und seinem Gärtner, Gott, baldigen Ertrag signalisiert? Weil nur durch solches Verzweiflungsgrün, per-aspera-ad-astra, Erkenntnisfrucht entsteht? Keine Ahnung.

 

Nicht viel besser ist’s, zweitens, um den Kontext der berühmtesten Faust-Zeile bestellt. Eben hat Faust seine Flug-Fantasie ausgebreitet, Wagner entgegnet, für ihn bestehe Seligkeit in Büchern und Pergamenten, die Welt draußen interessiere ihn weniger, zu fliegen schon gar nicht. Faust nun: „Du bist dir nur des einen Triebs bewußt, / O lerne nie den andern kennen!“ Also: Des Triebs, in Büchern zu forschen, ist Wagner sich bewußt – den anderen Trieb, Fernweh, möge er am besten gar nicht kennenlernen. So weit, so gut. Darauf folgt und reimt das berühmte: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, / Die eine will sich von der andern trennen“, und wir ahnen, daß mit diesen Seelen noch einmal jene beiden Triebe gemeint seien. Ja Pfeifendeckel! Tatsächlich wird nun – was eigentlich geschildert?

 

Ich versteh’s nicht, aber eindeutig handelt sich’s um was anderes als das Vorige: „Die eine hält, in derber Liebeslust, / Sich an die Welt, mit klammernden Organen“ – die Pergament-Freude Wagners kann damit nicht gemeint sein! Ich denke an pralle Sinnlichkeit, Essen, Trinken, Sex, mit Wagners „einem Trieb“ hat das nichts zu tun. „Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust“, aha, wieder die Flugfantasie, „Zu den Gefilden hoher Ahnen“ – wohin bitte? wo liegen diese Gefilde? Soll’s ins Totenreich gehn? Zu Ägyptens Pyramiden? Zu den Skulpturen der Osterinseln? „O gibt es Geister in der Luft, / Die zwischen Erd’ und Himmel herrschend weben, / So steiget nieder aus dem goldnen Duft / Und führt mich weg, zu neuem buntem Leben!“ Halt, Irrtum, Änderung des Zielorts: nicht zu den Ahnen, sondern zum Neuen soll’s gehn. Aber gehört dieses neue bunte Leben denn nicht zur Welt? Werden nicht auch dort Organe in Liebeslust klammern?

 

Kurzum: a) passen die beiden Seelen nicht zu den zuvor geschilderten zwei Trieben, b) wird mir der Gegensatz beider Seelen nicht klar. Möglicherweise meint Goethe: Die eine liebt ptolemäisches Genießen im Hier und Jetzt, die andere will rastlos immer neuen Wechsel? Oder sowas Ähnliches? Mag sein, hätte auch Sinn, aber: das steht nun wirklich nicht da.

 

4. Figuren

Faust nervt. Und leider ist mir auch Margarete unsympathisch. Weil Goethe sich als Geheimrat mit dem Thema Kindstötung durch die Mutter auseinanderzusetzen hatte, läßt sich nachlesen, wie er sich amtlich dazu positionierte. Klar ist: Wie finster diese Zeiten gewesen sein mögen, gleichwohl stellt Magarethes Tat kein übliches Verhalten einer unehelichen Mutter damals dar. Im Hinblick auf Margaretes Umfeld erscheint es mir ganz unverständlich: Sie ist 1. gläubig, 2. wohlhabend („Mein Vater hinterließ ein hübsch Vermögen, / Ein Häuschen und ein Gärtchen vor der Stadt“), 3. kinderlieb („Mein Schwesterchen ist tot. (…) Ich zog es auf, und herzlich liebt es mich. (…) Doch übernähm ich gern noch einmal alle Plage“) und hat 4. eine Leidensgenossin im Umfeld („Hast nichts von Bärbelchen gehört? (…) sie füttert zwei, wenn sie nun ißt und trinkt“). Margarete könnte eine Selbsthilfegruppe gründen! Okay, sie tut’s nicht, aber soll ich sie dafür mögen? Eigentlich kann ich von allen Faust-I-Figuren am ehesten Mephisto schätzen wegen seiner gnädigen, inkonsequenten Eselsgeduld Faust gegenüber. Doch nein: Er fädelt ja den ganzen Dreck ein und freut sich, dass Faust und Gretchen mittun! In summa: Eine Saubande, die ich mir nicht drei Stunden lang angucken will.

 

4

 

Klingemann

Unerwarteten Beifall für meine Gedanken erhalte ich durch einen der glühendsten Goethe-Verehrer unter seinen Zeitgenossen: den Braunschweiger Romantiker August Klingemann (1777-1831). Obwohl auch er die Theater-Inkompatibilität von Faust I sah („Göthe’s Gedicht (…) ist nie für die Bühne bestimmt worden“), wird just er die Erstaufführung realisieren – 21 Jahre nach der Druckveröffentlichung, und 14 Jahre nach dem Erscheinen von Klingemanns eigenem Faust-Drama. Letzteres erscheint in seiner simplen Gut-Böse-Polarität als selbständiges Werk keiner Betrachtung wert. Als Kommentar zu Goethes Faust gelesen, liefert es interessante Aufschlüsse. Ich betrachte es als Sammlung von Goethe-Korrekturen: Goethe-Details finden sich abgewandelt, Elemente, die Klingemann bei Goethe vermisste, eingebaut.

 

Klingemann I

Fausts Motivation, einen Pakt mit dem unheimlichen „Fremden“ – so heißt die Teufelsfigur hier – einzugehen, wird eingangs konkret benannt. Keine Reihe von Frustriertheiten gibt’s hier, sondern Geldnot – Faust hat den Buchdruck erfunden und scheitert mit der Vermarktung: „Hier hast du meine letzten Kupferdreier, (…) Die Wissenschaft betrog mich um den Preis, (…) Und was ich für die Nachwelt kühn errungen,/ Zahlt mir den Lohn voraus im Hungertode!“

 

Klingemann II

Aufs entschiedenste distanziert sich Klingemanns Faust von Goethe-Fausts Versprechen: „Sollt ich zum Augenblicke sagen …“. In klarer Bezugnahme verlangt er: „Genießen will ich, glühend heiß genießen,/ Und nimmer welken soll mir der Genuß;/ Ins Herz des Lebens will ich überfließen,/ Berauschen mich an seinem schönsten Kuß;/ Doch Dauer sei dem Augenblick gegeben,/ Rauscht er hinweg, mag ich ihn nicht durchleben!“

 

Klingemann III

Die Figur Wagners kommt weit besser weg als bei Goethe, Klingemanns Wagner erscheint als geschätzter Freund sowie als Muster an Güte und Loyalität. Auch hier verabschiedet sich Faust von wissenschaftlicher Arbeit, er rät Wagner: „Frisch auf mein Freund, und trenne dich vom Wissen“.

 

Klingemann IV

An der studentischen Kneipenrunde nimmt Faust zusammen mit Wagner teil, kein Angestellter des Teufelsimperiums ist im Raum. Ein Student erzählt Faust-Geschichten, die dem „Volksbuch“ entlehnt sind, und zum Szenenschluß zeigt Faust einen effektvollen Zaubertrick. Klingemann bewegt sich da näher am „Volksbuch“ als Goethe.

 

Klingemann V

Vor allem unterscheidet sich Klingemanns Teufelsfigur stark vom Mephisto Goethes. Sie heißt schlicht „der Fremde“ und tritt zunächst pantomimisch auf, um sich erst allmählich etwas gesprächiger zu zeigen. Ihre Anwesenheit bleibt sporadisch, sie wird kein Kumpel Fausts. Erst in der Schlußszene offenbart „der Fremde“ seine Identität. Und während Goethes Faust zuerst auf Mephisto herabblickt, verhält sich‘s bei Klingemann umgekehrt: „Gewürm des Staubes! (…) Du bist zu klein für mich!“ äußert Klingemanns Teufel verächtlich.

Insgesamt erschien Goethes Mephisto für Klingemanns Geschmack wohl zu wortreich und zu wenig rätselhaft. Klingemann selbst betont sein Bestreben, das „Geheimnißvolle und Schauerliche in meine Darstellung zu übertragen, das vor der Aufklärung anderer Dichter dieses Stoffes daraus entflohen ist.“ Was an einen lapidaren Satz erinnert, der sich in Ödön von Horvaths „Gebrauchsanweisung“ für die Aufführung von Horvaths eigenen Stücken findet: „Das Unheimliche muß da sein.“

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