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Woher kommt die Fuge?

1
Bachs e-Moll-Suite BWV 996 (das ist die mit der berühmten Bourrée) beginnt mit einem Praeludio in zwei Teilen, im Manuskript umfaßt jeder von ihnen eine Seite: „Passagio“ steht am Beginn des ersten Teils, und unten auf der Seite, direkt vorm zweiten Teil: „Prestissimo volti“. Letzteren Terminus, „prestissimo volti“, hat Bach öfter verwendet, er bedeutet: Blitzschnell umblättern! Denn jetzt, auf der zweiten Seite, geht´s los: flinkes dreistimmiges Gehakel, legostein-gesetzt aus imitativen Einsätzen eines zwei Takte kurzen Themas, das schlicht diatonisch frohlockt. Ein Minutenwalzer ohne großen Aufwand kontrapunktischer oder modulativer Natur –

das, ganz genau, ist –
genuin, stilrein, im ursprünglichen Sinn-

die Fuge.

Wollen wir als Merkmale ihrer  u r s p r ü n g l i c h e n  Gestalt festhalten:

A. Sie ist schnell; oder zumindest im Allegro-Stil gehalten (dazu unten noch mehr).
B. Sie ist (das hängt mit A. zusammen, auch dazu unten mehr) nicht von Chromatik geprägt, nicht von überraschenden harmonischen Wendungen.
C. Sie ist kein Musikstück, sondern Teil eines Musikstücks; in der Regel einer Ouvertüre oder eines Präludiums.
D. Sie weist keinen prägenden Kontrapunkt auf, sie ist, generell, nicht komplex.

2
Interessant, oder?

Schließlich hat sich die Schulweisheit ein ganz anderes Bild von der Fugenform errichtet. Schon lange:
Carl Philipp Emauel Bach spricht in seinem „Versuch“ von „gearbeiteten Stücken“, wenn er Kompositionen mit imitativen Einsätzen, ja, generell kontrapunktische Satzart meint.
Mozart versucht sich an der Fugenform just da, wo Tamino und Pamina in der „Zauberflöte“ schwere Prüfungen durchlaufen müssen.
Beethoven läßt seine „Große Fuge“ in doktorarbeitender Würde einherschreiten.

Ein Musikstück, das antritt mit gerunzelter Stirn, in akademischer Gravität
– vergessen wir nicht, daß die Fuge ursprünglich was ganz anderes gewesen ist.

Etwas Springinsfeld-mäßiges, ein befreites Aufatmen.
Ein Ursprung, auf den ihr Name, „die Flucht“, noch hinweist.

3
Wo kommt die Fuge her?
Von mittenraus, oder von hinterher.

Sie ist zweiter Teil, oder Mittelstück; oder überhaupt einer von vielen Partikeln (in einer Frescobaldi-Toccata etwa).

Für Christoph Bernhard ist die Fuga weit davon entfernt, ein vollständiges Musikstück darzustellen. Für ihn ist „fuga“ eine „Figur“ – eine der vielen, die er auflistet.

Die Préludes von Louis Couperin mit ihrem fugierten Mittelteil, oder Bach-Präludien wie das der e-Moll-Partita – hier finden wir genuine Fugen. Sozusagen Französische Ouvertüre, sozusagen Präludium-Fuge-Postludium, bloß, daß diese Bezeichnungen nicht dranstehen. Da steht einfach nur Präludium.
Ursprüngliche Fuge ist, wo´s nicht dransteht.

4
Denn –
sie braucht kein Markenzeichen, sie ist selbst Markenzeichen.

Sie braucht keinen Kontrapunkt, sie ist selbst Kontrapunkt.

Fuge kommt von mittenraus oder hinterher, sie fängt nicht an.
Sie ist Gegensatz:
zu etwas, was vorher gewesen ist. Und wie ist dieses Vorher-da gewesen?

Na, anders eben:
A. Nicht von einem Thema (von einer markanten einstimmigen Tonfolge) geprägt.
B. Nicht von rhythmischer Vielfalt geprägt, eher von isorhythmischer Gestik (Franz. Ouvertüre) oder freiem Rhythmus (Prélude non mesuré).
C. Von Versuchsanordnungen die Harmonik betreffend geprägt. Daher finden sich hier oft chromatische Schritte als kennzeichnend
und, damit verbunden,
D. Gravität.

Dazu bildet die Fuge den maximalen Gegensatz.

Fuge, das heißt eigentlich:
Jetzt kommt, wie ihr aufs deutlichste hört, etwas anderes.

Weil´s einstimmig anfängt, auffällig nach der Gravität, hört ihr das sofort.

Fuge, ursprünglich, heißt:
P l ö t z l i c h  e i n  a u f f ä l l i g e r  W e c h s e l.
Prestissimo volti.

Und nun komm ich, wie angekündigt, nocheinmal auf ihren – ursprünglichen, obligatorischen – Allegro-Charakter zu sprechen.

Allegro heißt zunächst nicht immer schnell. Heißt aber immer steady, rhythmisch klar, polyphone Verhakelungen erlaubend. Heißt Gegensatz zum non-mesuré, Gegensatz zum isorhythmischen Gestus. Schlagen wir Triosonaten Corellis auf: Da hamwers.

Allegro heißt: eine Bewegungsart, in der Fuga möglich ist.

5
Und die siebzigjährigen Kirchenmusiker wundern sich: Wie haben die damals Fugen improvisieren können, die Bachs und Kirnbergers? Wo doch die Fuge das Schwierigste überhaupt ist?

Sie wundern sich, weil diese Siebzigjährigen noch ohne Jam-Sessions studiert haben und ohne musikalisches Improtheater.

Fuge ist nicht schwierig. Wer zu mehreren improvisiert, merkt, daß das Imitieren ein ganz elementares Mittel darstellt. Ein simples und sehr theatralisches. Da kommt die Fuge her.

Blättern wir weiter im Frescobaldi:
Kontrapunktische Stücke mit imitativen Einsätzen, freilich, die gibt´s längst.
Die heißen zum Beispiel Ricercar, oder Canzon.

Fuge nicht. Fuga heißt um 1620 kein Musikstück.

Hier zeigt sich der wesentliche Unterschied zwischen Ricercar und Fuge:

Ricercar heißt: von Imitation gekennzeichnete Satzkunst.
Fuge heißt: von Imitation gekennzeichnete Satzkunst im Dienste eines auffäligen Wechsels der Bewegungsart.

Der springende Punkt:
Fuge kommt vom Improvisieren. Fuge ist vor allem Anfang. Viel weniger Durchwirkung, Verstrickung, Tüftelei als Gestik, Theater, Thema.

Fuge ist: ein Wechsel in der Bewegungsart.
Einer unter einigen.
Aber ein auffälliger; wahrscheinlich der auffälligste von allen (Beispiele bieten wieder die Frescobaldi- und Rossi-Toccaten).

Bach hat ursprüngliche Fugen geschrieben. Aber, weitaus bedeutender, weitaus bekannter, auch jene ausgetüftelten Großkunstwerke, die für den Image-Wandel der Fuge vielleicht am stärksten verantwortlich zeichnen. Hier tritt der Kontrapunkt in den Vordergrund, in der „Kunst der Fuge“ sind die einzelnen Stücke gar mit „Contrapunctus“ überschrieben.

Prima Stücke! Aber wenn ergraute Musikwissenschaftler sich wundern, daß das „Wohltemperierte Klavier“, nachdem es so wunderbar vertrackte Kompositonen aufbot, schließt mit einer luftig-unbeschwerten Fuge im Dreiachteltakt – –

dann sollen die sich wundern. Dieses Schlußstück, dieser Dreiachtel – das ist die Fuge.
Da kommt sie her.

 

Ergänzungen

(Sommer 2015)
Mattheson, Die wohlkingende Fingersprache
Fuga X in c-Moll
Fuge im italienischen Stil, von chromatischem Aufwand geprägt
(klar – es handelt sich um keine ursprüngliche Fuge mehr, sondern um ein ausgewachsenes Musikstück, praktisch zurückblickend auf die Spätbarockepoche komponiert, ihren Still noch fortschleppend) –
ihr folgt, gewissermaßen als Postludium, ein ruhiges, nicht fugiertes Stück im französischen Stil. Dieses ist überschrieben „Seriosita“.
D.h., die Ernsthaftigkeit, das Seriöse, wohnt nicht der Fuge inne, sondern ihrem Widerpart.

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