„Man kann nicht aus einem erstklassigen Roman einen erstklassigen Film machen. Aber sehr wohl aus einem zweitklassigen Roman“, hat der Schriftsteller Michael Schulte gesagt, und ich hab aufgehorcht. Analoges kenn ich nämlich vom Lied her: Wenn ich ein sehr gutes Gedicht vertone, kann es bei der Vertonung nur verlieren. Die Hölderlinzeile „Er erschreckt uns, unser Retter, der Tod“, die Ringelnatz-Zeile „Und auf einmal merkst du äußerlich“ – sie flüstern, knistern, lispeln so zart – da soll keine Singstimme Vokale in die Länge ziehen, kein Klavier dazu plum-plum tönen. Bei Wilhelm Müllers „Fremd bin ich eingezogen,/ fremd zieh ich wieder aus“ dagegen oder Heinrich Seidels „Ich trage, wo ich gehe, stets eine Uhr bei mir“ handelt sich´s um keine derart empfindlichen Klanggebilde. Sie haben durch Schuberts bzw. Loewes Vertonung gewonnen.

Reinhard Meys Texte gewinnen sehr durch den gesungenen Vortrag. Genauer gesagt, sie verlieren von ihrer Holprigkeit. „Wind Nord-Ost, Startbáhn Null-Drei“ – „Ich seh ihr noch lange nach/ séh sie díe Wolkén erklimmen“: solche gegen den Strich gebürsteten Verse finden sich öfter. Meys Gesangsvortrag geht geschmeidig damit um, wie ein Citroen CX mit einer Holperstraße. Ich bemerk sowas trotzdem als störend, in unserer Liedermacherschule spreche ich von „Meyismen“, wenn ein Vers holpert. Doch soll dieses, ich sage mal: Stilmerkmal hier nicht weiter erörtert werden.

Als ich, elfjährig, erstmals einem Mey-Lied begegnete, hatte ich hohe Erwartungen. Ich hatte ein Foto von diesem Blumenkind (denn als solches stilisierte Mey sich) gesehn, gelesen, daß dieser Mann allein mit seiner Gitarre auftrete – alles ungemein sympathisch. Nur lernte ich „über den Wolken“ kennen, ich war herb enttäuscht. Und zwar vom Text, an mehreren Stellen sträubte sich´s in mir. Inzwischen dürfte ich ihn rund hundert Mal gehört, gelesen, mitgegrölt haben, und kann mich nicht an ihn gewöhnen. Im Gegenteil, ich finde ihn immer schrecklicher. Sodaß es eine therapeutische Maßnahme darstellt, meine Einwände aufzulisten. Den Eichbaum kümmert´s nicht, wenn sich ein Wildschwein an ihm schobert, dem berühmten Chansonnier Mey kann mein Versuch nichts anhaben. Mir selbst hilft er: einem langwierigen Unbehagen will ich auf die Spur kommen.

Klar wird: Hier handelt sich´s nicht um zweitklassige Dichtung, die durch Musik zum prima Chanson amalgamiert würde. Vielmehr um einen Text, der, in meinen Augen und Ohren, ganz untauglich ist.

Dabei gibt es zwei unterschiedliche Haupt-Schwachstellen.
Erstens: den Refrain. Zweitens: die Strofen.

Um mit letzteren zu beginnen:

Ein verbreiteter Irrtum im Hinblick auf Dichtung ist die Annahme, Lyrik brauche nicht präzise zu sein. Logisch, konsequent, diszipliniert vorzugehen, sei Sache des Mathematikers. Vom Dichter, einem Träumer, der von der Muse geküßt wurde, dürfe man das nicht verlangen.

Das seh ich ganz anders, und zitiere eine markante Gegenposition:
„A poem is a small (or large) machine made of words“, schreibt William Carlos Williams während des 2. Weltkriegs und erwähnt im Folgenden die Sperry Corporation, die Navigationsgeräte für Flugzeuge und Zielgeräte für Bomben herstellte: „All that an artist or a Sperry can do is to drive toward his purpose“ – Künstler oder Sperry, sie können nur dies tun: auf ihr Ziel zusteuern. Und das meint, „to make: make clear the complexity of his perceptions“, also Klarheit zu schaffen aus vielerlei Eindrücken.

Ich möchte einen weniger militärischen Vergleich wählen und den Dichter mit einem Zeichner vergleichen, der – zur Darstellung all seiner perceptions – nur wenige Striche zur Verfügung hat. Die wenigen müssen sitzen, damit eine Situation entsteht.

Mit welcher Sehnsucht gedenke ich der Zeit,
wo mir eine Mark dreißig lebenswichtig waren,
ja, notgedrungen, ich sie zählte,
meine Tage ihnen anpassen mußte,
was sage ich Tage: Wochen, mit Brot und Pflaumenmus
aus irdenen Töpfen
vom heimatlichen Dorf mitgenommen,
noch von häuslicher Armut beschienen,
wie weh war alles, wie schön und zitternd!

Der späte Gottfried Benn hat das geschrieben.
Eine bürgerliche Person sehnt sich nach den Entbehrungen der Jugend. Merkwürdig, doch anhand Benns skizzenhafter Konturen kann ich´s mir ausmalen.

Anderes Beispiel:

Und nach dem Abendessen sagte er
Lass mich noch eben Zigaretten holen gehen
Sie rief ihm nach nimm dir die Schlüssel mit
Ich werd‘ inzwischen nach der Kleinen sehen
Er zog die Tür zu, ging stumm hinaus
Ins neon-helle Treppenhaus
Es roch nach Bohnerwachs und Spießigkeit

Michael Kunze hat das für Udo Jürgens geschrieben: Der Hit „Ich war noch niemals in New York“ beginnt so.

Und Mey?
„Poet des Alltäglichen“ ist ein Artikel der Süddeutschen Zeitung zu Meys 70. Geburtstag betitelt. Da heißt es „Allein für das Reimpaar Jacke/Luftaufsichtsbaracke müsste man ihm den Hölderlin-Preis geben“. Meinetwegen, auch wenn Hölderlin nicht gerade für auffällige Reimpaare bekannt ist.

Doch stellt just die „Luftaufsichtbaracke“ – ein Wort, das offenbar von Mey erfunden wurde – ein Problem dar. Gehe ich doch zunächst von einem großen Flughafen aus: Die Anfangszeile nennt „Startbahn Null-Drei“ – demgemäß scheint es Startbahnen in zweistelliger Anzahl zu geben, oder zumindest drei von ihnen (zum Vergleich: Der Flughafen Tempelhof hatte zwei). Solch ein Flughafen hat einen Tower, da sitzt das Aufsichtspersonal. Und nicht im Bauarbeiterhäuschen!

Nun sagt mir ein Mey-Kenner, Mey, der selbst begeisterter Flieger sei, rede von Sportfliegerei. Okay, dann paßt die Baracke – aber die Startbahn 03 nicht. Und vor allem paßt dann die Hauptsache nicht: daß bei Regen durch Wolken hindurch gestartet wird. Element des Sportflugs ist nicht der Flug bei Regen, nicht der Flug über den Wolken (Flugzeugexperten können das näher erläutern). Einfach gesagt: daß hoch droben die Sonne scheint, wissen wir nicht aus der Cessna, sondern aus der Boeing.

Großflughafen, Verkehrsflugzeug oder Sportfliegerei? Zu dieser Unklarheit kommt eine weitere: Der Betrachter, wo steht der eigentlich? Zunächst wird als bemerkenswert festgestellt: „Bis hier hör ich die Motoren“. Da muß die Maschine kilometerweit entfernt sein, vielleicht im entlegenen Hangar hinter Startbahn Null-Neun? Direkt anschließend ist sie ganz nah: „wie ein Pfeil schießt sie vorbei, und es dröhnt in meinen Ohren. Und der nasse Asphalt bebt“ – wovon bebt der? Hat sich das startende Flugzeug mit seinen Beinen vom Boden abgestoßen, so, wie Vögel das tun? Nebenbei läßt jenes „Beben“ wieder ein großes Flugzeug assoziieren – die Tatsache aber, daß das Beben registriert wird, daß also der Betrachter gleich daneben auf dem Asphalt stehen darf, wieder ein kleines.

„wie ein Schleier staubt der Regen“. Daß ein Schleier staubt, das gibt es. Etwa, wenn man ihn gleich nach der Hochzeit einmottet und erst zur Silberhochzeit wieder hervorholt. Doch

Regen und stauben?
Das soll ich glauben?
Selig, wer´s gläubt.
Regen stäubt.

Natürlich kann ich mir alles irgendwie zusammenbasteln.
Auf dem Großflughafen wird umgebaut, der Tower ist geschlossen, die Luftaufsicht wird in einer provisorischen Baracke abgewickelt. Weil er unbedingt heim will, startet Onkel Paul mit seiner zweimotorigen Piper trotz Regenwetters. Er bekommt die sieben Kilometer lange Startbahn 03 zugewiesen, und weil Paul die Luftaufsicht kennt, darf ich direkt am Startbahnende stehen. Gerade als Pauls Flugzeug vorbeischießt, erschüttert ein Erdbeben (oder war es ein Bauarbeiter mit der Rüttelplatte?) den Boden und macht den schönen Regen staubig.

Alles möglich, nur: Wahrscheinlich ist das nicht, alltäglich schon gar nicht. Und ich hege den Verdacht, daß Mey keine konkrete Situation vor Augen hatte, sondern – so wie´s klischeehaft dem Schlagertexter oder dem Werbetexter unterstellt wird – verschiedene dem Stilgefühl passend erschienende Assoziationen zusammenträgt.

In der mittleren Strofe läßt Mey das Flugzeug in der Wolkendecke verschwinden:

Meine Augen haben schon
jenen winzgen Punkt verloren
Nur von fern‘ klingt monoton
Das Summen der Motoren.

Summen? Jeder hat schon ein Flugzeug durch Wolken hindurch gehört – das grollert dumpf und ungenau. „Summen“? „Nur von fern tönt´s monoton:/ die Summe der Motoren“, das ginge.

Und die Schlußstrofe?

in den Wolken schwimmt Benzin
schillernd wie ein Regenbogen

schillert ein Regenbogen? Gemeint ist wohl: das Benzin schillert in den Farben des Regenbogens.

„Wolken spiegeln sich darin“ – da bin ich im Zweifel: Ob sich in den Benzinschlieren einer Pfütze noch etwas spiegeln möchte? Gemeint ist wohl: Da sind Pfützen, auf manchen schwimmt Benzin, in andern spiegeln sich die Wolken.

Um nocheinmal zur berühmtesten Stelle der Strofen zu kommen –
„Irgendjemand kocht Kaffee“.

Das sind drei Wörter und zwei Fehler.
Erstens wird da kein Café gekocht, sondern Kaffee. Wir sprechen weder Französisch noch Wienerisch. Die Meysche Falschbetonung, diesmal kreide ich sie an, weil sie des Reimes wegen geschieht. Freilich, auf deutschen Kaffee ist schwer zu reimen.
Zweitens, und das ist wichtig: kocht da nicht „irgendjemand“. Da kocht „jemand.“ Das ist ein Unterschied.

Ich kann sagen: „Wahrscheinlich hat irgendjemand auf der Welt gerade riesigen Appetit auf Zwiebelrostbraten. Ich sitz hier vor einem und krieg ihn nicht runter.“ Hier paßt „irgendjemand“.
Aber wenn ich am offenen Fenster vorbeigeh und einen Geruch wahrnehme, sag ich: „Da brät jemand Zwiebeln an.“ Nicht „irrrrgendjemand brät Zwiebeln an.“ Der Geruch ist ja präsent. Die Unsicherheit des „irgend“ ist ganz unangebracht. Ebenso hier: Luftaufsichtsbaracke – riechst du´s? Da kocht jemand Kaffee. Nicht: Da kocht irrrrrgendjemand Kaffeeeeee.

Warum reite ich auf diesem Detail herum?
Weil es direkt zum Refrain überleitet. Weil sich an dieser Stelle schon die Manier erkennen läßt, die im Refrain riesendeutlich wird: die Ich-nix-genau-wiss-, die Klein-Bubi-Rolle.

Kommen wir also zum Refrain.

Dreierlei soll angemerkt werden.

Erstens:
Sehr prominent, breit herausgestellt, findet sich in Refrainmitte der Reim zweier Wörter, die beide unwichtig sind, beide eigentlich kurz auszusprechen: „dann“ und „man“. Beim Nachgrölen des Liedes kann man die Schluß-„n“s ganz langziehen: „sagt mannnnnnn“/ „und dannnnnnn“. Einfach gesagt: Ein beispielhaft schöner Reim sieht anders aus. Zumal dieser hier wieder eine Falschbetonung benötigt: „sagt mán“ statt des korrekten „ságt man“.

Zweitens ist die Stelle, auf die gereimt wird, noch falscher, nämlich von der Logik her unmöglich.
„und dann“ – dieser Satzanfang paßt, wenn vorher etwas zeitlich Begrenztes zum Abschluß kam:
„Ich mach Hausaufgaben, und dann geh ich spielen.“ Wird etwas unbegrenzt Andauerndes geschildert, kann nicht mit „und dann“ angeschlossen werden. „Auf Teneriffa ist´s schön, und dann geh ich spielen“ – bei diesem Satz müsste der Grundschullehrer schon beide Augen zudrücken.
Eben diesen Satzbau bringt Mey. Er sagt: Da oben ist´s klasse, und dann wird alles andere klein. Nennen wir´s infantilen Sprachgebrauch.

Drittens gilt´s die Rolle, die der Autor einnimmt, zu betrachten.

Ich sage: Der Dichter soll sich seiner Sache sicher sein, oder zumindest so tun, als sei er´s. Dichtung ist ja im Grunde nichts anderes als eine Liebeserklärung. Und die soll geradeheraus geschehen und nicht mit vielen Absicherungen: „Ich weiß ja, daß es gerade nicht paßt und daß ich total unangemessen angezogen bin und überhaupt ein viel zu unbedeutender Mensch für dich, aber vielleicht willst du´s ja trotzdem hören, also der Ralf und der Dieter, die meinen, daß Du und ich gut zusammenpassen würden.“

Klar, zu wichtig nehmen soll der Dichter sich auch nicht. In einem Interview sagt Peter Rühmkorf:
„u.a., wie praktisch jeder normale Mensch, das wäre für mich schon fast so was wie eine literarische Idealposition, nicht u n t e r anderen, wohlgemerkt, so gewisse diminutive Duckmäuserhaltungen in der Literatur (Robert Walser zum Beispiel) sind mir ein Greuel.“ Ich weiß nicht genau, was Rühmkorf mit dem diminutiven Robert Walser meinte. Doch könnte er an jenen Tonfall aufwendiger Leisetreterei gedacht haben, der beim reiferen Walser vorkommt. In seinem Jesus-Essay etwa: „Vielleicht spreche ich in diesem meiner Meinung nach total harmlosen Essay so, weil mich die Tatsache, daß mein Großvater seinerzeit Pfarrer war, vollkommen unbefangen sein läßt. Falls ich mir erlauben darf, eine Sekunde lang zu aufrichtig zu sein, dächte ich gern daran, daß meine Mutter einmal, nicht direkt, sondern gleichsam wie bloß zu sich selbst sprechend, sagte“ –
Mensch! möchte man ausrufen. Laß den Schmus weg und komm auf den Punkt!

Nun gibt es das Umgekehrte: Tritt nicht zu selbstbewußt auf die Bühne, wird Stand-up-Comedians und Poetry-Slammern empfohlen. Gib dich lieber ein bißchen schüchtern – das wirkt sympatischer. (Und wenn du dann im Laufe Deiner Nummer noch den großen Maxe gibst, ist die Wirkung umso eindrucksvoller.)

Unsicher tun – Heinrich Heine hatte sowas drauf. Sein ausgewachsenes Selbstbewußtsein versteckt er gern mal unter der Maske des verträumten Melancholikers. Den griechisch-antiken Mythos von den Sirenengesängen, denen die Schiffer zum Opfer fielen, an den deutschen Loreley-Felsen zu verpflanzen, war ganz und gar Heines Collage und Erfindung. Erst durch Heine hat die Loreley zu singen begonnen! Doch verkauft er seine Idee nicht reißerisch à la: „Ey, an der Loreley verunglücken doch so viele Schiffe. Weißte warum? Ich hab´s rausgekriegt: Weil, wie diese Sirenen, so singt auch die Loreley und lenkt die Schiffer ab!“
Nein, Heine behauptet, er erzähle ein uraltes Märchen, das ihn als Ohrwurm belästige, und an das er sich gleichwohl nicht richtig erinnern könne. Ja, beginnen läßt er das Gedicht überhaupt erst mal mit seiner eigenen Befindlichkeit, die – bitte habt Mitleid! – nicht gut ist:

„Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
daß ich so traurig bin.
Ein Märchen aus uralten Zeiten
das geht mir nicht aus dem Sinn (…)

Ich glaube, die Wellen verschlingen
am Ende Schiffer und Kahn“ (…)

Mir fallen Zeilen eines Rühmkorf-Gedichts ein:
„Wie ich immer gesagt hab, in solcher Verfassung soll man
              eigentlich keine Gedichte schreiben.
Da muß der Kunde doch unvermittelt denken,
              hier wär der Ausguck verstopft“ –

beziehungsweise kann dieser Kunde sagen: „Heinrich, jetzt gehste heim und kuckst es nochmal nach. Und wennde weißt, ob Schiffer und Kahn verschlungen werden, und weißt, was es bedeuten soll, dann kommste wieder, dann erzählste´s nochmal richtig!“

Auch Mey behauptet, die Gedanken seines Refrains seien nicht auf seinem Mist gewachsen. „Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, liegen darunter verborgen“ – wer, bitte sagt, das? Jemand, der Flugangst hat, sagt das nicht. Und der gewöhnliche Business-Passagier trägt Terminkalender und Sorgen im Handgepäck. Und was heißt denn Freiheit da oben? Die Luftaufsicht, vom frischen Kaffee gestärkt, ist wachsam!

Aber Mey ist jetzt Klein-Reinhard, der sich sehnt und das alles nicht richtig weiß. „Ich war da noch nie, ich hab nur sowas gehört. Ich weiß auch nicht, ob ich´s richtig verstanden hab. Aber über den Wolken, da muß die Freiheit wohl grenzenlos sein.“ Tatsächlich seh ich das Wörtlein „wohl“ für das infamste des ganzen Textes an, für das unehrlichste.

Mensch, sagt ein Verteidiger des Liedes, dieser Tonfall paßt doch gerade, weil Mey nicht da oben ist, sondern sich hinsehnt. Paßt der? frag ich. Daß Mey sich sehnt, ist klar. Nur, um ein zweitesmal Rühmkorf zu zitieren:

„Halt mal das Ohr an die Brust, wenn du kannst!“

Wie spricht die Sehnsucht?
Sagt deine: „Was der Typ am Nachbartisch serviert bekommt, also das muß, wie man sagt, wohl auch ganz lecker sein“? Meine Sehnsucht sagt: „Keine Ahnung, was das ist, was der da hat. Ich will´s unbedingt auch!“

Gleichzeitig malt Meys Refrain ja mit dem riesengroßen Klischee-Pinsel. Sonne/Regen – der Gegensatz aus den Strofen war immerhin noch ein konkreter. Jetzt geht´s nur noch um Schlager- und Schlagworte: Freiheit! Ängste! Sorgen!

Verbreitet war zur Zeit der Entstehung des Liedes eine Sichtweise, derzufolge Freiheit – die eher mit West-Europa assoziiert wurde – erkauft werde durch Ängste und Sorgen. Von denen gebe es im – dem damaligen Klischee nach – unfreien Osten weniger. Freiheit, Ängste und Sorgen gehörten zusammen auf dieselbe Seite – eine dialektischen Zweiteilung in der Waagerechten.

Anders Meys Zweiteilung: An der Vertikalen ausgerichtet, urteilt sie simpel: Oben alles gut: Sonne, Freiheit! Unten alles schlecht: Regen, Ängste, Sorgen, nichtig, klein. Ein unkritisches, pseudo-naives Gegenüber – es belegt, was ich schon bei den Strofen ahnte: daß wir es nicht mit persönlicher, differenzierter Chansonkunst zu tun haben, sondern mit einem Schlagertext.

Und keinem guten.

Ziehen zum Vergleich den „Griechischen Wein“ heran. Wie im Mey-Lied wechseln auch hier konkrete erzählende Strofen („Es war schon dunkel, als ich durch Vorstadtstraßen heimwärts ging“) ab mit einem Refrain, der im Gefühl schwelgt.

Griechischer Wein
ist so wie das Blut der Erde –

Nicht, daß ich diesen Text loben wollte. „Blut der Erde“, das ist doch totaler Stuß! Doch wenn ich dem Sänger das sage, dann sagt der „Stuß? Na und! Is´ aber so!“ und schwelgt weiter. Das ist sein Gestus, und der ist hier richtig.

Mein abschließender Rat an die Dichter:

Sei im Leben bescheiden und zurückhaltend. Doch wenn du das Wort ergreifst, mach dich nicht klein. Das ist nur Koketterie oder Machthabenwollen.
Und wenn du schon Stuß redest, dann steh wenigstens dazu!

Um den unterschiedlichen Gestus zu verdeutlichen, hab ich die Refrains von „Griechischer Wein“ und „Über den Wolken“ ihren Gestus – und ihre Melodie -vertauschen lassen. Wer will, kann´s nachsingen:

zur Melodie von „Übern den Wolken“:

Griechischer Wa-hein
muß wohl so wie das Blut der Erde sein
schenkt sich irgendjemand, sagt man,
zuviel Wein ein, werd ich traurig, und dann
würd bald alles alle sein. Dann kochteeee
irgendjemand Kaffee.

zur Melodie von „Griechischer Wein“ (zweite Refrain-Hälfte: Griechischer Wein/ und die altvertrauten Lieder usw.):

Über den Wolken
ist die Freiheit ohne Grenzen
Ängste und Sorgen
fliehn ins Blut der Luft, sie schwänzen –
und ruft der Mann
von der Luftaufsichtsbaracke an, dann
geh nicht dran.

Übrigens gibt es neben Meys Lied weitere klassische Gerne-Fliegen-woll-Stellen in der deutschen Literatur. Victor von Scheffel braucht im Lied der Franken („Wohlan, die Luft geht frisch und rein“) nur eine einzige Zeile (die Christof Stählin sehr geliebt und gerühmt hat):

„Ich wollt, mir wüchsen Flügel.“

Eine andere Stelle, die wie Ikarus und Mey die Sonnen-Nähe als Motiv nennt, hat jeder meiner Leser schon mal gelesen, und wahrscheinlich vergessen. Hier ist sie:

Betrachte, wie in Abendsonne-Glut
Die grünumgebnen Hütten schimmern.
Sie rückt und weicht, der Tag ist überlebt,
Dort eilt sie hin und fördert neues Leben.
O daß kein Flügel mich vom Boden hebt
Ihr nach und immer nach zu streben!
Ich säh im ewigen Abendstrahl
Die stille Welt zu meinen Füßen,
Entzündet alle Höhn, beruhigt jedes Tal,
Den Silberbach in goldne Ströme fließen.
Nicht hemmte dann den göttergleichen Lauf
Der wilde Berg mit allen seinen Schluchten;
Schon tut das Meer sich mit erwärmten Buchten
Vor den erstaunten Augen auf.
Doch scheint die Göttin endlich wegzusinken;
Allein der neue Trieb erwacht,
Ich eile fort, ihr ew’ges Licht zu trinken,
Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht,
Den Himmel über mir und unter mir die Wellen.

Na, wo steht das? Bitte sportlich sein – erstmal kurz grübeln, zwei Tipps notieren, und dann erst googeln.

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